Stellen Sie sich vor, Sie bekommen keine Briefe mehr. Keine Werbung, keine Ansichtskarte, keine Rechnung. – Eigentlich gar nicht so übel, dachte ich mir, als ich in der „Nuova Sardegna“ diese Schlagzeile las:

Sardischer Postbote unterschlägt 400 Kilo Briefe!

Denn, überlegte ich mir, wenn ich keine Rechnungen mehr bekomme, will ich im Gegenzug auf Urlaubskarten gern verzichten. Ist ja eigentlich ein gutes Geschäft und nicht mein Problem, wenn die Post nicht funktioniert. Oder doch? Gespannt las ich weiter.

In dem kleinen sardischen Städtchen Mores war es dem staatlichen Postino zu mühselig, Tag für Tag und bei Wind und Wetter seiner Profession nachzugehen. Die Sonne scheint zwar oft, aber nicht immer, und darum empfand er das tagtägliche Zustellen zunehmend als Last, von der eine Auszeit zu nehmen sicherlich vertretbar sein sollte. Folglich schwänzte er hin und wieder und verstaute die Briefe statt dessen in seiner Garage. Irgendwann, versicherte er, hätte er alles ordnungsgemäß an den Mann oder die Frau gebracht.

Man möge nicht denken, kommentierte die Nuova Sardegna süffisant, dass er seinen Beruf nicht ernst nähme. Oh nein! Schließlich hätte er die Briefe ja auch dem Altpapier anvertrauen können. Er habe aber, ganz im Gegenteil – wie es sich für einen akkuraten Beamten gehört – alles sauber geordnet und in seiner Garage gestapelt. Das Dilemma, vermutete die Zeitung weiter, sei nur gewesen, dass die Führung des Garagenregisters sehr aufwändig gewesen sei. Logischerweise habe die damit verbrachte Zeit für das Austragen gefehlt. So sei ein echter Teufelskreis entstanden und die Briefesammlung immer höher und breiter geworden. Zum Schluss habe die Garage unter stattlichen 400 Kilo „geächzt“.

Wahrscheinlich hätte das Register irgendwann die Garage gesprengt, wenn nicht ein unerhörtes Ereignis dem Treiben Einhalt geboten hätte. Ein Polizist aus Bonorva verlangte Zutritt zur Garage: Fahrzeugkontrolle! Genüsslich beschreibt die Nuova Sardegna in ihrem Bericht, wie dem Ordnungshüter im Anblick des Unerwarteten die Kinnladen heruntergefallen seien und er minutenlang in völliger Sprachlosigkeit verharrt habe. Statt des Autos hätten sich dort vom Boden bis zur Decke Reihen von Kartons gestapelt, so gut beschriftet und geordnet, dass sich jeder preußische Postbeamte davon eine Scheibe hätte abschneiden können. Post aus vier Jahren! Darunter keineswegs nur belanglose Briefchen oder läppische Rechnungen, sondern alles, was z.B. die italienische Amtsstube auf dem Postweg verlässt!

Unglaublich, aber wahr: Aufgefallen war das in Mores bis dato nicht. Und nachdem der erwischte Postbote sein Bedauern kundgetan hatte, waren die Bürger bereit, ihm zu verzeihen. „Eigentlich ein guter Mensch, auch wenn er manchmal etwas zu viel trinkt“, entschuldigte ihn der Barista von Mores. „Ein freundlicher, stets hilfsbereiter Nachbar“, urteilte der Friseur von nebenan. Niemand wollte ihm bösen Willen unterstellen oder gar unlautere Motive. „Er hat sich bestimmt nicht bereichert und auch nicht in der Post herumgeschnüffelt. Er ist nur ein bisschen faul, wie alle „statali“*.

Als es dem Postino an den Kragen gehen sollte – schließlich drohten Haft bis zu drei Jahren und die Entfernung aus dem Dienst – formierte sich sogar eine Bürgerinitiative* mit dem Ziel, dem Postboten den Job zu retten. „Er hat einen Fehler gemacht, aber er ist ein Guter. Er wollte doch niemandem schaden. Außerdem hat er eine Familie zu ernähren!“

Der Ausgang des Ganzen ist für mich zweitrangig. Jeder kann sich das ausmalen. Interessanter finde ich die Überlegung, was passiert wäre, wenn sich diese Geschichte statt in Mores in Klein Posemuckel zugetragen hätte. Hätten die Posemuckelaner ihrem sündigen Sohn auch verziehen und ihm eine zweite Chance zugebilligt?

Empathie und Großmut zeichnet die Sarden seit jeher aus, und ich finde, das Verhalten der Leute aus Mores verdient Respekt. Sie sollten uns „mores“* lehren!

Mit einem sardischen “Adiosu” verabschiedet sich für heute

Joachim Waßmann

*Statali bezeichnet Arbeiter, Angestellte und Beamte, deren Arbeitgeber der italienische Staat ist.

*Leider nicht auf Deutsch, aber hier kann man die Bürgerinitiative hören und sehen.

*„mores lehren“ ist eine Redensart, die angewendet wird, wenn jemandem Anstand und Benimm abgefordert werden soll.