Auf Schritt und Tritt begegnet man auf Sardinien archaischen Traditionen. So habe ich z.B. über die „Tenores“ berichtet. Das ist eine Gesangesform, die aus vorgeschichtlicher Zeit stammt und bis heute quicklebendig geblieben ist.  Ganz ähnlich ist es mit der Launedda, der Panflöte der Schäfer und Hirten.

Über die Entstehung dieser Flöte vor rund 3000 Jahren kann man nur spekulieren. Schon damals war Weidewirtschaft die Existenzgrundlage für die dort lebenden Menschen, und bis heute hat sich am Hirtenleben wenig geändert. Die Menschen lebten damals in Dörfern, die als Flucht- und Kultpunkt jeweils eine steinerne, höchst ungemütliche Nuraghe hatten. Wer mit uns den Ausflug z.B. zur Nuraghe Loelle bucht, bekommt einen Eindruck davon, wie unkomfortabel das Leben damals gewesen sein muss.

Das trockene, heiße Klima diktiert den Dörflern den Lebensrhytmus. Im Sommer zwingt er die Hirten – damals wie heute – hoch in die Berge. Dorthin, wo die Sonne die Weiden nicht verbrennt. Da ist der Schäfer dann für eine lange Zeit mit seinen Schafen ganz allein. Ein hartes Dasein: Früh am Morgen mehrere Hundert Schafe melken und daraus Pecorino produzieren. Abends ein zweites Mal. In der Zwischenzeit die Schafe weiden. Aber wochen- bzw. monatelang keinen Menschen zu sehen und fern der Lieben zu sein, schlägt auch Hartgesottenen aufs Gemüt. Tagaus tagein dasselbe monotone Programm! Nur untertags konnte der Hirte chillen, wenn er mit seinen Schafen gemächlich über die Weiden zog. In diesen Stunden der Muße wird er viel nachgedacht haben. Ganz sicher auch darüber, wie man sich das triste Dasein in den Bergen erträglicher machen kann.

Das, vermute ich, war die Initialzündung für die Entdeckung der Launedda. Aus purer Langeweile mag der Hirte die überall wachsenden „arundo pliniana turra“ ausgehöhlt haben. Dann entdeckte er, dass man mit diesen Rohrstengeln Töne produzieren kann, und schon hatte er sich zum Zeitvertreib ein Spielzeug erschaffen. Nimmt man zwei davon, kann man Musik damit machen und Melodien erfinden. So entstand die Launedda, und bestimmt ist sie sein Lieblingswerkzeug im Kampf mit der Einsamkeit geworden.

Die Launedda entspricht im Grundmuster der überall im Mittelmeer vorkommenden Panflöte. Pan ist ja bekanntlich der Gott der Hirten und passt mit seinen Attitüden recht gut zu seinen Schutzbefohlenen. Er tritt in der Gestalt eines Menschen mit Ziegenhörnern und -beinen auf und denkt vornehmlich an Sex. Da er vermutlich als Hirtengott wie seine Schützlinge monatelang unbeweibt bleiben musste, kann ich ihm das noch nicht einmal übel nehmen. Ich weiß mich da in guter Gesellschaft, nicht nur bei meinen Geschlechtsgenossen: Im sinnenfrohen Rokoko war er seiner Lüsternheit wegen ein echter Held, allenthalben beliebt, auch und gerade bei der damals recht aufgeschlossenen Weiblichkeit.

Die aber würde ihn heutzutage genau deswegen verfolgen und hinter Gitter bringen, und zwar mit Hilfe des sexuellen Belästigungs-Paragraphen. Der ist zwar gut gemeint, wirkt bei allen Pans dieser Welt aber als „Wegfahrsperre“ für Komplimente, Flirt und Erotik. So ändern sich die Zeiten. Was damals, so wie hier, als hehre Kunst bewundert wurde, dürfte heute von keiner Linse mehr eingefangen werden, ohne zum Skandalon zu werden.

Die Launedda muss zum Glück dergleichen nicht befürchten. Ihr Klang ist zeitlos und steht über Moraldiktaten. Hören Sie mal, wie authentisch archaisch das klingt.

Mit einem sardischen “Adiosu” verabschiedet sich für heute

Joachim Waßmann

PS. Diesen Blog widme ich Marianne. Sie kommt seit 1987 (!) Jahr für Jahr zu uns nach Sardinien und ist eine international bekannte und renommierte Musikerin. Sie hat ein besonderes Faible für die Launedda und hätte den Gott der Hirten und Schäfer unter keinen Umständen vor den Kadi gezerrt. 2015 hat sie krankheitsbedingt zum ersten Mal gefehlt. Ich wünsche ihr auf diesem Wege alles Gute!