Trilogie über Graziano Mesina – Teil 1 „Der Outlaw“

Das rauhe Bergland im Herzen Sardiniens hat seit der Antike allen Eroberern widerstanden. Das mussten die Phönizier, die Römer, Spanier und all die erfahren, die den Hirten der Barbagia* ihre eigene Zivilisation aufzwingen wollten. Die Sarden hier hielten unbeirrt an ihren eigenen Bräuchen, Regeln und Gesetzen fest.  Wer das nicht weiß, kann nicht verstehen, dass die Barbagia auch heute noch einen antiken Ehrenkodex hat, der Taten billigt, die nach unserem Verständnis verurteilt gehören.

Zum Beispiel die von Graziano Mesina, dem berühmtesten Banditen des letzten Jahrhunderts, dessen Bruder in Budoni das Bäcker-Brot backt, das ich seit Jahren mit wachsender Begeisterung esse. Grazianeddu, wie ihn die Sarden liebevoll getauft hatten, war vor rund 50 Jahren als Robin Hood gestartet und hat eine Karriere hingelegt, die schließlich sogar verfilmt wurde.

Man kann sie in drei Etappen unterteilen.

  1. Der Outlaw
  2. Der Held
  3. Das Ende

Der Outlaw

Im zarten Alter von 16 Jahren begann es mit einem simplen Diebstahl: Drei Schweine. Nicht, wie man vermuten könnte, um mit seinen Kameraden eine Spanferkel-Party zu veranstalten, sondern um damit nach Robin-Hood-Manier drei notleidenden Hirten zu helfen. Das könnte man als Akt christlicher Nächstenliebe noch durchgehen lassen. Zwei Jahre später aber wurde er zum ersten Mal verhaftet, weil er mit einer Pistole in seinem Heimatdorf Gaslaternen ausschoss. Auch das könnte man noch als Dummer-Jungen-Streich durchgehen lassen. Die Behörden bewerteten das aber als Rowdytum und verknackten ihn zu drei Monaten.

Während er die Haft verbüßte, traf die Familie ein herber Schlag: Auf den Ländereien der Familie wurde die Leiche eines zuvor entführten Großgrundbesitzers gefunden. Natürlich fiel der Verdacht sofort auf die Mesinas. Zwei Brüder von Graziano wurden verhaftet, obwohl die Familie beteuerte, nichts damit zu tun zu haben. (Die Mesinas waren kinderreich: 10 Geschwister, Graziano der Zweitjüngste.) Die Polizei konnte mit echten Beweisen nicht aufwarten, weil die Orgolesen keinen Finger krümmten, um die Aufklärungsarbeit zu unterstützen. Dabei hätte es genügend Zeugen gegeben, die alles hätten aufklären können.

Aber wer Südeuropa, speziell Sardinien und Sizilien kennt, weiß, dass historisch begründetes Misstrauen gegen die Obrigkeit jedwede Kooperation mit deren Vollzugsorganen verbietet. Zu oft, nach Volksmeinung eigentlich immer, hatte die Polizei bewiesen, dass sie nur Unordnung, Unfrieden und Unrecht stiften konnte. Der vorliegende Fall war in den Augen der Familie und vieler Orgolesen ein weiterer Beweis dafür.

Recht kann man sich folgerichtig nur selber verschaffen, und dafür gibt es bis in die Antike zurückreichende Regeln. So muss Blut mit Blut gesühnt werden. Für Graziano gab es keinen Zweifel daran, wo die Mörder zu suchen waren. Den geltenden Gesetzen der Faida (Vendetta) folgend, betrat Graziano am helllichten Tag die Bar, die von seinen Feinden frequentiert wurde und schoss in aller Öffentlichkeit ein Familienmitglied nieder. Das war Mord, wenn auch einer durch die Gesetze der Barbagia sanktionierter. Er wurde verhaftet, konnte aber fliehen. Damit begann seine Karriere als Outlaw. Er entzog sich den nach ihm suchenden Polizisten und Antimafia-Kommandos und versteckte sich in den Bergen des Supramonte.

Zeitweise waren im Jahr 1967 über 3000 Carabinieri und Mafia-Spezialeinheiten unterwegs, um ihn zu finden. Mindestens einmal pro Woche durchkämmten sie in Orgosolo Haus für Haus. Hubschrauber kamen zum Einsatz, um das Gelände zu überwachen. Mehrfach wurde er von der Polizei eingekreist, entkam aber, weil er sich skrupellos den Weg freikämpfte, sogar unter Einsatz echter Kriegswaffen wie Handgranaten. Sein Steckbrief war überall in Sardinien präsent. Trotzdem hatte er die Chuzpe, am helllichten Tag in Nuoro an der Carabinieri-Kaserne vorbei zu spazieren, in Cagliari öffentlich einzukaufen, sich bei Fußballspielen sehen zu lassen, seine Verlobte in Orgosolo und seinen Anwalt in Nuoro zu besuchen. All das war möglich, weil er die volle Sympathie und Unterstützung der Bevölkerung hatte: „Bei uns verweigert ihm niemand ein Stück Brot. Alle hier wissen, dass Grazianeddu ein braver Junge ist, der schuldlos zum Banditen wurde.“

Derweil saßen seine beiden Brüder zwei Jahre unschuldig in Haft. Als man sie freiließ, wurden stattdessen nun zwei Brüder der verfeindeten Sippe angeklagt. Damit hätte die Geschichte eigentlich ihr Ende finden können. Kaum aber waren Grazianos Brüder aus dem Gefängnis entlassen, wurde sein Bruder Antonio entführt. Nach einigen Tagen wurde er gefunden: Tot und mit herausgerissener Zunge! Offenbar verdächtigte ihn die andere Familie, mit der Polizei kooperiert zu haben. Grazianos Reaktion war vorhersehbar. Wie beim ersten Mal streckte er, der steckbrieflich Gesuchte, vor aller Augen in besagter Bar ein Mitglied der verfeindeten Sippe nieder, dieses Mal mit einer Salve aus einer Maschinenpistole. „So tötet man räudige Hunde“, soll er den in der Bar Anwesenden zugerufen haben.

Wieder wurde er verhaftet, wieder brach er aus. Das wiederholte sich etliche Male, auch aus angeblich ausbruchsicheren Zuchthäusern. Die Polizei war permanent hinter ihm her. Es kam zu mehreren Feuergefechten, bei denen sieben Polizisten, aber auch sein bester Freund den Tod fand. Mesina gedachte seiner, in dem er zum Begräbnis sieben rote Rosen auf sein Grab legen ließ und schwor, sich an den Polizisten zu rächen. In einem Leserbrief an die „Nuova Sardegna“ hingegen stellte er klar, er würde „niemals Touristen anrühren. Sie können ohne Angst nach Orgosolo kommen. Ich räche mich nur an denen, die mir Böses angetan haben.“

 

Damit erwies er sich als treuer Sohn seiner Heimat. Die dankte es ihm, und er machte Karriere. Mehr davon im Kapitel „Der Held“.

Mit einem sardischen “Adiosu” verabschiedet sich für heute

Joachim Waßmann

Anmerkungen

Barbagia bezeichnet das Gebirgsmassiv im Herzen Sardiniens. Das Wort selber stammt aus dem Römischen und bedeutet so viel wie Barbarenland. Darin drückt sich aus, dass die Römer hier nicht Fuß fassen konnten. Es ist bezeichnend, dass dieser Name bis heute lebendig geblieben ist.

Hier geht es weiter zu Teil 2