„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“ Was solche Absichtserklärungen wert sind, kann man auch in Sardinien verfolgen. Bei unserer „Rallye für denkende Langsamfahrer“* erklärte mir ein Gast, dass er an die „wissenschaftlichen Bücher“ von Erik Däniken glaube und beurteilen könne, was es mit den scheinbar unsinnigen Steinmauern wohl auf sich habe, die die Insel überall, selbst im Hochgebirge überziehen: „Ist doch klar: Außerirdische! Einwandfrei! Eine andere sinnvolle Erklärung gibt es dafür nicht.“ 

Die anderen Rallyeteilnehmer um ihn herum schütteln belustigt den Kopf. Mit Gegenvorschlägen rückt zunächst aber keiner heraus. Zu unerklärlich ist das Phänomen. Dabei hat er nicht so ganz Unrecht! Allerdings nur, weil sich diese Mauern tatsächlich einer „sinnvollen“ Erklärung zu verschließen scheinen.

Er könne sich vorstellen, meint ein anderer, „dass es sich hier um Optimierungsarbeiten handelt.“ Er kenne das aus der Landwirtschaft. „Die räumen die Feldsteine aus dem Weg, die das Pflügen behindern, und schichten sie am Rand des Ackers auf“.

Beide Meinungen streifen die Wahrheit. Unser Däniken-Fan „glaubt“ an seine Aliens und hakt damit das Thema ab. Die aus dem Wege-Räum-Theorie übersieht, dass hier ganz offenbar – von wem auch immer – real existierende Mauern errichtet worden sind.

„Dazu fällt mir nur die Geschichte der Gründung Karthagos ein“, scherzt ein Dritter. Danach sei Dido* erlaubt worden, das Land in Besitz zu nehmen, das sie mit einer Rinderhaut abdecken könne. „Weil sie die Haut in feinste Streifen schnitt, konnte sie so eine sehr große Fläche abdecken und Karthago gründen.“ Leider rudert er zurück: Ernsthaft komme das natürlich nicht in Frage. Aber immerhin seien die Karthager ja die ersten Eroberer der Insel gewesen.

Dabei ist die Dido-Antwort die beste!

Die Erklärung liefert das „Editto delle chiudende“. Das ist ein gutgemeinter Erlass des Königs Vittorio Emanuele aus dem Jahr 1820, mit dem er die Selbstverwaltung von Grund und Boden durch die Gemeinden abschaffte und der Landwirtschaft auf die Beine helfen wollte. Die führte neben der dominanten Weidewirtschaft ein Schattendasein. Eine Ausweitung der Landwirtschaft würde dem König bessere Einnahmequellen erschließen: Ein immobiler Acker lässt sich halt besser besteuern als eine mobile Schafherde!

Überdies vertrat er die auch in unserer Zeit hoch gehandelte Überzeugung, dass Privatisierung die Lösung fast aller Probleme des Staates sei, in jedem Fall besser als die von den Hirten praktizierte „kommunistische“ Bewirtschaftung. Das Weideland, muss man wissen, war bis dato nach uralter Tradition praktisch herrenlos und wurde gemeinschaftlich verwaltet. Ganz früher konnte jeder Hirte überall auf dem Grund und Boden seiner Gemeinde weiden lassen. Das war völlig problemlos, so lange das Flächenangebot die Nachfrage decken konnte. Als das nicht mehr funktionierte, vergab die kommunale Selbstverwaltung zu Beginn einer Saison die Weiderechte. Problemfälle wurden intern geklärt, ohne die Gerichte zu bemühen. Nicht alle Streitfälle aber konnten gütlich beigelegt werden. Der zunehmende Mangel an Weideland führte zu blutigen Fehden.

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Vittorio Emanuele überlegte daher, wie er den Landfrieden auf rechtsstaatliche, steuerlich lukrative und stabile Beine stellen könnte. Er mag sich an Dido erinnert haben und verfügte daher, dass derjenige Besitzer eines Grundstückes sein solle, der es einzäune. Damit wollte er mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen:

  • Begünstigung der unterentwickelten Landwirtschaft
  • Erstellen eines Katasters zur Feststellung der Eigentümer und deren Besteuerung
  • Frieden schaffen durch klare Besitzverhältnisse

Als der Erlass erging, waren die Hauptbetroffenen Analphabeten. Die dünne, gebildete Oberschicht hatte daher einen Zeitvorteil, den sie geschickt nutzte. Bevor Hirten und Bauern überhaupt wussten, welche Arbeit sie da verrichteten, hatten die Gebildeten Fakten geschaffen und das Land in Besitz genommen.

Den blutigen Familienfehden um Weiderechte war damit tatsächlich der Boden entzogen worden.  Trotzdem hatte der König den Teufel mit Beelzebub ausgetrieben: Die Hirten mussten zwar nicht mehr untereinander streiten, dafür aber mit  dem Grundbesitzer die Pacht aushandeln, damit der u.a. die nun erhobenen Steuern zahlen konnte. Gängiges Pachtmodell war die „Mezzadria“. Die sah so aus:

Vor (!) Beginn der Weidesaison wurde je nach Größe der Herde festgelegt, was an Naturalien (Wolle, Fleisch, Käse) der Hirt am Ende der Saison aufzubringen hatte, und das war in der Regel 50% der Erträge. Das unternehmerische Risiko lag damit zu 100% beim Hirten. Verlief das Jahr normal, lieferte der Hirt am Ende der Saison. Kam irgendetwas dazwischen, musste er dennoch das zuvor Festgelegte liefern. Rücksicht auf Unwetter, Krankheiten oder andere Widrigkeiten nahm der Latifundista (Grundbesitzer) in den meisten Fällen nicht.

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Die Folgen kann man sich leicht vorstellen: Konnte der Hirte nicht zahlen, wurden seitens der Grundherren die Gerichte bemüht. Damit konnten die schrift- und rechtsunkundigen Hirten gar nichts anfangen. Die kannten nur kommunale Schiedsgerichte, die von Ihresgleichen bestellt waren und jenseits des geschriebenen Rechts nach tradierten Regeln zu schlichten versuchten. Die Gerichte hingegen waren mit Beamten besetzt, die der Oberschicht nahestanden und von ihr abhängig waren. Die hatten die verfehlte Gesetzgebung umzusetzen und praktizierten damit Klassenjustiz.

Bei der Umsetzung der Umzäunungs-Ediktes kam es zu absurden Situationen. So wurden u.a. Hirten, die sich auf „ihren“ Weiden Häuser errichtet hatten, durch Umzäunung kalt enteignet. Bei all diesen Auseinandersetzungen kam es zwangsläufig zu Gewalt, weil sich die Benachteiligten nicht anders zu wehren wussten. Vor der Verurteilung durch die Gerichtsbarkeit flohen sie dann in die Berge und führten ein Leben als Outlaw. Dabei genossen sie stets die Anerkennung ihres Dorfes. Von der Justiz Verfolgte zu unterstützen und den Verfolgern jegliche zu verweigern, war selbstverständlich und entsprach dem Ehrencodex der Omertà.

Das Editto delle Chiudende trug ganz wesentlich dazu bei, das Outlaw-Dasein im Bewusstsein des einfachen Mannes zu glorifizieren. Die „Banditi“* hatten sich ja nicht um ihrer selbst wegen in diese Lage gebracht, sondern weil sie die „natürlichen“ Rechte und die Ehre ihrer Familien verteidigen mussten. Tote mussten bei diesen archaischen Auseinandersetzungen in Kauf genommen werden.

Weil es der Staat bis heute nicht geschafft hat, die Achtung und das Vertrauen der Barbaricini* zu erwerben, konnte das Banditentum bis in die heutige Zeit überleben und Vertreter wie Graziano Mesina* zu Volkshelden machen.

Mit einem sardischen “Adiosu” verabschiedet sich für heute

Joachim Waßmann

Anmerkungen:
Die „Rallye für denkende Langsamfahrer“ ist eine Art „Schatzsuche“, bei der die Teilnahme auf unterhaltsame Art und Weise viel über Sardinien lernen. Sie wird vom Centro Servizi Tartaruga in Budoni veranstaltet.

Dido wurde der Sage nach von ihrem Bruder Pygmalion aus dem Libanon vertrieben. Die Flucht führte sie ins heutige Tunesien, wo sie Karthago gründete.

Banditi sind polizeilich Gesuchte, die sich der Festnahme durch Flucht entziehen, nicht zu verwechseln mit Gangstern oder Banditen, wie man sie aus z.B. Wildwestfilmen kennt.

Barbaricini sind die Bewohner des Berglandes um Nuoro herum. Die Bezeichnung geht auf die Römer zurück, die von den Hirten verächtlich als „Barbaren“ sprachen.

Graziano Mesina wird in diesem Blog in drei Kapiteln „Trilogie über Graziano Mesina“ abgehandelt. (Am besten in der richtigen Reihenfolge lesen.)