Ich habe es als Deutscher bei meinen sardischen Freunden zur Zeit nicht leicht. Bei jedem Barbesuch muss ich mir die nicht nur scherzhaft gemeinten Vorwürfe anhören, „Culona“*, gemeint ist Frau Merkel, bevormunde die Italiener auf unerträgliche Weise.

Die solle sich doch bitte schön um ihre eigenen Eier kümmern.

Italien gehört zu den Staaten, deren Politik wichtige Reformen bis heute nicht erledigt hat. Mich wundert das nicht: Kein Staatenlenker will es sich mit seinen Wählern verderben, und darum werden schmerzhafte Maßnahmen einfach nicht durchgeführt. (Gerhard Schröder war da eine rühmliche Ausnahme.)

Gerade in diesen Tagen erleben wir den Eiertanz von Tsipras und Co. Keinem will eine Therapie einfallen, und schon gar keine, die so richtig Spaß macht. Dass es eine gibt, behauptet dagegen mein Schweizer Freund Andreas von Albertini: Steuerfreiheit für alle! Lesen Sie seine pointierte Kurzgeschichte „Nicos Welt“:

1. Ist der Franken das Erdöl der Schweiz?

Trautes Zusammensein im Kreise der Familie. Der Vater liest das Sonntagsblatt, die Mutter brütet über ihrer Haushaltskasse. Der 16jährige Sohn Bruno hält Zwiegespräch mit seinem Laptop, während Ursula, die zwölfjährige Tochter, Hausaufgaben macht. Nico, das 8jährige Nesthäkchen, ist mit seiner Micky Maus beschäftigt. Ein normaler Sonntagnachmittag eben, langweilig und geruhsam zugleich, während es draußen regnet.

Warum die Saudis keine Steuern zahlen

„Die Saudis haben’s gut“, erklärt der Vater von seiner Zeitung aufblickend mit einem Anflug von Neid, „Dort zahlt man keine Steuern.“ Selbst beim Kleinen ist das Wort „Steuern“ mit unangenehmen Erfahrungen verbunden. Die beiden älteren Geschwister hatten im letzten Jahr eine Ferienreise nach Amerika vorgeschlagen, und Nico hatte dem begeistert zugestimmt. Weil aber noch Steuerrechnungen zu begleichen waren, konnten die Eltern die Zustimmung damals nicht geben, was Nico den Behörden nie verzieh. In seinem kindlichen Verständnis erschien es als geradezu abstoßend, der Familie Geld wegzunehmen, das sich für einen Urlaub in den Vereinigten Staaten hätte verwenden lassen.

„Warum zahlt man in Saudi Arabien keine Steuern?“, will Nico daher wissen. „Weil es dort Erdöl in rauhen Mengen gibt, und man den Staatshaushalt aus Exporten abdecken kann“, antwortet Bruno, der dank seines Computers auf weitreichendes Sachwissen abstellen kann. „Wir haben leider kein Öl“, fügt der Vater hinzu, „und darum müssen wir Steuern zahlen.“ Nico kann sich dieser Logik nicht verschließen und vermerkt lediglich, dass man arm dran ist, wenn es an Schätzen mangelt, die sich aus dem Boden pumpen lassen.

2. Das Fluten von Märkten

Der Vater wendet sich einem Herrn Draghi zu, der (so die Zeitung) „die Märkte zu fluten gedenkt“. „Fluten“ ist nach Brunos Computer ein Begriff der Seemannssprache“ , der „volllaufen lassen“ bedeutet. Dieses beispielsweise bei U-Booten, die zum Abtauchen ansetzen. Statt mit Wasser, will der Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) offenbar die Notenpresse anwerfen, die Finanzmärkte mit großen Geldmengen versehen und — zum Zwecke der Bekämpfung von Deflation — der Wirtschaft einen Schub verleihen.

Über Sinn und Zweck solcher finanzpolitischer Eingriffe kann sich Nico natürlich kein Bild machen. Weil die Zeitung jedoch von einer „Verzweiflungstat mit unabsehbaren Folgen“ spricht, nimmt er an, es handle sich um etwas wenig Erfreuliches. Auch Mutter und Tochter denken in die gleiche Richtung. Beinahe in einem Anflug von Mitleid zieht Ursula für die Rolle von Herrn Draghi einen Vergleich zum „kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern“, das dürftig gekleidet und frierend, ein Streichholz nach dem andern entzündet und in immer reichhaltigere Träume gleitet, bis man sie am nächsten Morgen erfroren in einer Nische kauernd findet. Wenn von „Verzweiflung“ die Rede ist, so könnte möglicherweise auch die EZB ein ähnliches Schicksal erleiden. Weitaus weniger emotional und mehr auf den eigenen Nutzen bedacht, überlegt dagegen die Mutter. Sie erinnert sich an den „Soldat am Wolgastrand“ aus der Operette von Franz Lehar und widmet um: „Du hast im Beutel viel Euro bei Dir, schick doch einen davon auch zu mir.“

3. König Midas

Das Familiengespräch beschäftigt sich mit der bangen Frage, welche Auswirkungen die Draghi—lntervention auf den Schweizerfranken haben wird. Es geht um unser Geld, auf den in Münzform die im 17. Jahrhundert geschaffene eidgenössische Integrationsfigur „Helvetia“ posiert. Wehrbereit hält sie in ihrer rechten Hand einen mannshohen Speer, während sich die Linke auf ein Banner mit einem überdimensionalen Schweizerkreuz abstützt. Auch Helvetia hat, das muss gesagt sein, schon bessere Tage erlebt. Zunächst war sie aus purem Gold, dann aus Silber und heute präsentiert sie sich in profaner Nickelprägung. In dieser Hinsicht hat unser Symbol schon etwas an Glanz verloren.

Gleichwohl kann im Wettstreit mit anderen Währungen der Schweizerfranken auf eine fast unglaublich erscheinende Erfolgsgeschichte zurückblicken. Von seinem Großvater hat Bruno erfahren, dass man in dessen Jugend für einen Dollar vier Franken dreißig bezahlen musste; heute sind es noch neunzig Rappen, also das Fünffache weniger. Auch der erst zu Anfang des 21. Jahrhunderts in Umlauf gebrachte Euro hat bis heute im Vergleich zum Schweizerfranken 40 Prozent an Wert eingebüßt. Dies stellt Bruno nicht ohne Stolz fest.
Der Vater mag die Hochstimmung seines Sohnes nicht teilen. „Die Schweiz läuft Gefahr ein moderner König Midas zu werden, bei dem sich einer griechischen Sage nach alles, was er berührte in Gold verwandelte.“ Entgegen landläufiger Meinung hat Midas deswegen aber nicht den Hungertod erleiden müssen. Ein Bad im Paktolos, ein die heutige Türkei nahe der ägäischen Küste durchfließender Fluss (der seither Gold führen soll) hat ihn von seiner Gabe befreit.
„So etwas wie ein Bad im Paktolos hat auch unsere Nationalbank genommen“, weiß Bruno zu berichten, „indem man sich im Jahre 2011 dazu entschloss, Euros in unbeschränkter Höhe zu einem auf CHF 1.20 fixierten Wechselkurs entgegenzunehmen.“ Seither sind Fremdmittel in einem Ausmaß von rund 500 Milliarden Franken zugeflossen. Im Gegensatz zu Midas konnte sich die Schweiz damit aber nicht aus der Bredouille retten. Im Januar 2015 musste die Übung abgebrochen werden, weil im Hinblick auf die Aktivitäten der Europäischen Zentralbank, mit weiteren Zuflüssen in der Höhe von um die 500 Millionen Franken pro Monat zu rechnen war.

4. Zahlenakrobatik

Ursula verschlägt es bei den genannten Zahlen fast den Atem. 500 Millionen im Monat entsprechen 18 Millionen im Tag oder etwas weniger als eine Million pro Stunde. Es ist daher einleuchtend, dass die vor vier Jahren eingeleitete Praxis nicht fortgesetzt werden konnte. „Was geschieht mit der halben Billion, die bereits auf Fremdwährungskonten liegt?“, will die Mutter wissen. Da ist aber selbst Bruno um eine Antwort verlegen.

Der Vater entnimmt der Zeitung, dass Bundesbern für die nächsten Jahre ein strukturelles Defizit von rund einer Milliarde erwartet. Er rechnet: Wollte man die 500 Milliarden zur Abdeckung der prognostizierten Fehlbeträge einsetzen, so würde es immerhin ein halbes Jahrtausend dauern, bis das Geld aufgebraucht ist. Da geht vorher sogar den Saudis das Öl aus.

5. Nico meldet sich zu Wort

Nico hat aufmerksam zugehört und sich seine Gedanken gemacht: „Wir haben zwar keine Bodenschätze, aber wir haben doch den Schweizerfranken, und der ist genauso viel wert. Warum können wir ihn nicht „wie Öl“ ans Ausland verkaufen?“ Was dem kleinen Mann in seiner kindlichen Einfalt offenbar vorschwebt, ist ein Konzept, bei dem die Schweiz (wie Saudi Arabien) ihren Staatshaushalt durch Abgabe von Schweizerfranken auf den Finanzmärkten abdeckt und auf die Erhebung von Steuern verzichtet. Dann steht einer Familienreise in die USA nichts mehr in Wege. „Man kann doch Geld nicht wie ein Stück Vieh zum Markt tragen“, stellt der Vater nüchtern fest. „Warum nicht?“, will Nico wissen. Aber der Vater hat keinen Widerspruch duldend gesprochen und ist nicht zu weiteren Diskussionen bereit. Er widmet sich bereits dem Sportteil der Zeitung.

6. Epilog

Es hat zu regnen aufgehört, und die Familie entschließt sich zu einem Spaziergang. Auf dem Heimweg denkt Bruno über die Worte seines Bruders nach. „Ganz so Unrecht hat er nicht“, sagt er sich.

Die Schweiz verfügt an ihrer Landeswährung über ein Monopol und kann tun und lassen was sie will. Niemand kann ihr dieses Recht absprechen, weder ein anderes Land, noch die OECD oder sonst eine internationale Organisation. Der Schweizerfranken gehört uns allen; wir alle haben zu seinem Erfolg beigetragen, sodass es uns (und auch dem kleinen Nico) erlaubt sein muss, ein Wort mitzureden, wenn es um die Verteilung des Nutzens geht. Schließlich entspricht es den Zielen der Nationalbank, den Wert des Schweizerfrankens zum Vorteil der Exportwirtschaft zu dämpfen, und Sie hat sich (wenn auch mit Erfolg) durch die vorübergehende Fixierung des Euro-Wechselkurses und das damit verbundene „Fluten“ auch in diese Richtung bewegt. Wieso kann dem gleichen Zweck aber nicht auch dadurch entsprochen werden, dass Fremdwährungsreserven, anstelle sie in Reduits zu bunkern, zur Deckung des Finanzhaushaltes eingesetzt werden, und man auf diese Weise die Bevölkerung mit Steuerforderungen verschont? Solange die Attraktivität des Schweizerfranken ungebrochen bleibt, präsentieren sich derartige Perspektiven keineswegs als Sottise.

Wenn im Tessin der Pegel des Luganer Sees einen Grenzwert übersteigt, wird durch eine Schleuse bei Ponte Tresa Wasser abgelassen. Nach den gleichen Prinzip kam man – unter völliger Eigenkompetenz in der Dosierung der Wirkung — beim Schweizerfranken vorgehen, wobei die internationalen Finanzmärkte „als Schleuse“ dienen. Sollten sich (wie wenn im Nahen Osten das Öl ausgeht) die Verhältnisse eines Tages grundlegend ändern, müsste man nolens volens wieder auf Steuereinnahmen zurückgreifen. Streng genommen wird Saudi Arabien mit jedem Barrel Öl, das aus der Erde gepumpt und exportiert wird, etwas ärmer.
Die Schweiz dagegen erleidet zukunftsausgerichtet nicht den geringsten Nachteil, solange das Ausland unseren Haushalt bezahlt. Aber warum ist bisher noch niemand auf diese Gedanken gekommen? Bruno entschließt sich, im Internet nach Gleichgesinnten zu forschen. Auch der Vater weilt mit seinen Gedanken noch beim Familiengespräch. Er bedauert ein wenig die harschen Worte gegenüber seinem Jüngsten. Vielleicht könnte das brachliegende Geld auch für Sanierungen von AHV und IV zum Einsatz gelangen. „Was für ein Land, und was für Möglichkeiten!“, sagt er zu sich und lässt aus der Höhe des Zürichbergs den Blick auf den in der Abendsonne glänzenden See schweifen. „Und keiner merkt’s.“

Soweit Andreas von Albertini. Irgendwie, einleuchtend, finde ich. Was sagen Sie?

Mit einem sardischen “Adiosu” verabschiedet sich für heute

Joachim Waßmann

* Mit „Culona“ ist Angela Merkel gemeint. Ich verzichte auf die Übersetzung dieses Berlusconi zugeschriebenen Schimpfwortes.