Mirto aus Sardinien – ein “geistreiches” Märchen

Heute möchte ich Ihnen das Geheimnis des Mirto verraten und warum der Mirto Rosso es mir besonders angetan hat. Die Sarden sind Meister darin, die Früchte ihrer Insel geistreich zu veredeln. Die Weiß- und Rotweine der Insel genießen weltweit einen exzellenten Ruf. In den Kinderschuhen dagegen steckt die Produktion von Schnäpsen. Da gibt es zwar mittlerweile auch professionelle Produzenten. Die aber führen in Sardinien ein Schattendasein, weil jede sardische Familie auf die vom Großvater überlieferten Rezepte schwört.

Wann immer ich bei Freunden zu Gast bin, lasse ich mir die „geheimen“ Likör-Tricks erklären. Tatsächlich ist es so, dass die Rezepte wenig voneinander abweichen, das Ergebnis aber schon. Ich schließe daraus, dass die „materia prima“, also das verwendete Ausgangsmaterial, von ganz entscheidender Bedeutung ist. Es kommt darauf an, Früchte mit dem richtigen Reifegrad zu verwenden und ihre zweite Reifezeit in r Alkohol mit  viel Fingerspitzengefühl zu bestimmen.

Zu den geistreichen Hochprozentern aus der Region gehören die verschiedenen Grappa-Varianten sowie Liköre aus Zitrusfrüchten,  Nüssen, dem Saft der Manna-Esche, Süßholzwurzeln und  aus den Blüten, Blättern und Früchten des Myrtenstrauches. Die Grappa-Varianten erreichen bis zu 65 „Umdrehungen“, die süßen Liköre enthalten selten  mehr als 35% Alkohol.

 

Mein liebster Likör: der Mirto

Mein liebster Likör aus Sardinien ist der Mirto Rosso. Er rundet das beliebte sardische Sonntagsmenü wunderbar ab. Ich erinnere mich noch an das erste Mal, als mir dieser märchenhaft gute Likör kredenzt wurde. Ich hatte viel zu üppig gegessen und deutete meinem Gastgeber leichtes Unwohlsein ob meines überfüllten Magens an. „Kein Problem“, erwiderte er, „das werden wir gleich haben!“ Dann verschwand er im Nebenraum und kam mit einer Bierflasche zurück, aus der er mir einen dickflüssigen Saft kredenzte. „Sciroppo?“ fragte ich zweifelnd. „No, no, bevi!“ Der Befehl, den vermeintlichen Sirup zu trinken, kam so bestimmt, dass ich meinen Argwohn überwand und gehorchte. „Jägermeister?“ wollte ich nun wissen. Er schüttelte den Kopf und schenkte nach. „Trink aus, gleich geht es dir besser!“ Er hatte Recht. Mein Magen hörte zu rebellieren auf, nachdem ich eine reichliche Menge der leckeren Medizin eingenommen hatte. Allerdings bin ich mir heute manchmal unsicher, worauf diese Wirkung zurückzuführen war. Zweifellos hatte die Medizin nämlich nicht nur im Magen wohltuend gewirkt, sondern auch im Hirn. Es kann daher sein, dass mein Bewusstsein den Zustand meines Magens nur mehr benebelt wahrgenommen hat.

Tatsächlich würde ich den Mirto der Familie der Magenbitter wie Jägermeister und Underberg zuordnen. Anders als diese entfaltet er seine segensreiche Wirkung aber nur unter Einsatz einer einzigen Pflanze, nämlich des Myrtenstrauches. Die Myrte gehört zur Mittelmeer-Macchia und steuert die reifen Früchte oder die Blüten und Blattspitzen zur Erzeugung des „Mirto“ bei. Die reifen Beeren – sie sehen Heidelbeeren ähnlich – werden ab November geerntet. Daraus entsteht der kräftige Mirto Rosso. Die Blüten und frischen Blätter hingegen ergeben den sanft duftenden Mirto Bianco.

Mirto Selbermachen: Das Rezept für Mirto Rosso

Wer Sardinien im Winterhalbjahr bereist, sollte nicht versäumen, Mirto selber herzustellen. Den dafür erforderlichen reinen Alkohol gibt es in jedem Supermarkt zum Spottpreis von ca. 12 € pro Liter. Das ergibt 5 Flaschen richtig guten Schnaps! Hier ist das Rezept zum Ausprobieren.

Man braucht dazu:

  • 1l reinen Alkohol
  • 800 g Beeren von der Myrte
  • 600 g Zucker
  • 1l Wasser

 

Die Beeren ernten und waschen. In verschließbare Behälter (Weck- oder Gurkengläser) geben und mit dem Alkohol so bedecken, dass über den Beeren 2-3 cm Alkohol steht. Ca. 25 – 40 Tage dunkel lagern. (Je länger, desto herber gerät der Likör.) Danach das Gemisch filtern und die Beeren zusätzlich durch ein sauberes Küchentuch drücken, um so kein Aroma und keine Farbstoffe zu verlieren. Zuvor löst man den Zucker in kochendem Wasser auf und lässt ihn abkühlen. Dann den Myrtensud und das Zuckerwasser mischen. Der Likör kann jetzt schon getrunken werden, Er wird durch kühle und dunkle Lagerung nach 2 Monaten aber noch runder im Geschmack. Probieren Sie es aus, aber beachten Sie: Die Regel „viel hilft viel“ ist nicht immer richtig. Ich spreche aus Erfahrung!

Die Myrte, ein mythisches Gewächs

Übrigens: Die Beeren der Myrte werden nicht nur für den Likör, sondern auch gern als Gewürz auf verwendet. Ein Spanferkel, auf Myrtenzweigen serviert, duftet auf eine unnachahmliche Weise. Für die alten Griechen hingegen hatte der Myrtenzweig eine ganz besondere  Bedeutung. Er war der Göttin Aphrodite geweiht und stand für Liebe und Jungfräulichkeit. Deshalb war die Myrte auch in unseren Gefilden ein beliebter Bestandteil der Kränze, die Bräute im Haar trugen, eine Tradition, die heute nahezu in Vergessenheit geraten ist. Es ist wie im Märchen: – „C‘era una volta …“, „Es war einmal …“

 Der Mirto aus Sardinien hingegen hat die Jahrhunderte unversehrt überdauert. Er ist und bleibt märchenhaft gut.

 

Mit einem sardischen “Adiosu” verabschiedet sich für heute

Joachim Waßmann