Man kann nicht sagen, dass Sardinien reich an Berühmtheiten wäre. Die Insel stand stets am Rande des Geschehens und hatte, anders als Italien, nie den Nährboden, auf dem Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst es leicht hatten, besondere Blüten hervorzubringen. Aber bekanntlich bestätigen ja Ausnahmen die Regel.
So habe ich in diesem Blog schon über den „Volkshelden“ Graziano Mesina (Trilogie Teil 1 / Teil 2 / Teil 3) berichtet. Renato Soru hingegen ist ein Fall für das Guinness-Buch der Rekorde.
Auf ihn gestoßen bin ich zu Anfang des neuen Jahrtausends, als mir in der Süddeutschen Zeitung in großen Lettern der Name „Tiscali“ auffiel. Das machte mich stutzig. Was hatte diese von mir hochgeschätzte Sehenswürdigkeit im Wirtschaftsteil einer deutschen Zeitung zu suchen? Ich begann eine erste Recherche. Zunächst aber hier das Wichtigste zu „meinem“ Tiscali:
Hinter dem einprägsamen Namen verbirgt sich ein ganz normaler Berg im Gennargentu-Massiv, der eine einzigartige, prähistorische Sehenswürdigkeit beherbert: Ein Dorf aus dem dritten bis fünften vorchristlichen Jahrhundert, hineingebaut in eine vor Urzeiten eingebrochene Karsthöhle. Zu jener Zeit hatten es die Einheimischen mit Karthagern und Römern zu tun. Die wollten die „Barbaren“ – daher kommt der Name „Barbagia“ für dieses Gebiet – zivilisieren. Davon hielten die Sarden wenig. Die Hirten wollten frei sein und sonst gar nichts, konnten der Militärmacht der Eroberer aber nichts entgegensetzen. Um der Zwangsbeglückung zu entgehen, musste man sich vor den „Befreiern“ verbergen, und so entstand Tiscali.
Gut haben sie sich versteckt, denn um hierher zu kommen, muss man zunächst durch unwegsame Landschaft hinauf in den Supramonte kraxeln. Kein Weg, kein Pfad zeigt irgendeine Richtung an. Man kommt dann an eine versteckt liegende, unauffällige Felsnische. Hat man sich da hindurchgezwängt, gelangt man nach weiterer beschwerlicher Wanderung an die Karsthöhle. Darin ganz versteckt das Nuraghendorf. Irgendwann muss es überflüssig geworden sein, denn es wurde noch in vorchristlicher Zeit verlassen und diente danach nur noch Outlaws vom Schlage Mesinas als Zufluchtsort.
Renato Soru hat der Bezeichnung eine ganz neue Bedeutung gegeben, und schuld daran ist die digitale Aufbruchstimmung der Jahrtausendwende. 1997 gründete er ein Unternehmen, mit dem er zunächst nur seinen sardischen Landsleuten die Segnungen der Telekommunikation nahe bringen wollte und verpasste ihm den höchst sardischen Namen „Tiscali“.
Man darf unterstellen, dass er nicht wusste, welche Erfolgsstory damit seinen Anfang nahm. Die Nachfrage nach seinen Produkten war so riesig, dass er schon nach wenigen Monaten auf das Festland expandieren konnte. Die Italiener schätzten es, eine kundenfreundliche Alternative zu dem schwerfälligen Staatsunternehmen Telecom Italia gefunden zu haben.
Warum sollte, was in Italien so erfolgreich war, nicht auch in anderen Ländern funktionieren? Die Bedingungen dafür waren überall ähnlich: Die Staatsmonopolisten mussten ihre in Jahrhunderten gewachsenen Strukturen binnen weniger Jahre komplett über den Haufen werfen und aus bürokratischen Monstern konkurrenzfähige Unternehmen formen. Bis dato kannten sie als Behörden weder Konkurrenz noch Wettbewerb. Klar, dass diese Kolosse einem findigen Unternehmer, der sein Ohr am Puls der Zeit hatte, nicht gewachsen waren. Soru jagte der Telekom Italia daher im großen Stil die Kundschaft ab. Und als er 1999 seinen Kunden sogar noch einen kostenlosen Internetzugang anbot, brachen alle Dämme! Tiscali boomte!
Schon 3 Jahre nach Firmengründung hatte Renato Soru ein Privatvermögen von 4 Milliarden Dollar aufgehäufelt. Damit war er der am schnellsten Milliardär gewordene Unternehmer aller Zeiten! Keiner konnte mit ähnlichen Zahlen aufwarten, nicht einmal sein Landsmann Berlusconi. Bis heute nicht!
Genau wie den zog es ihn in die Politik. Auch hier gelang ihm ein ähnlich steiler Aufstieg. 2004 schon wurde er zum Präsidenten der Region Sardinien gewählt. „Nebenbei“ versuchte Soru, mit Tiscali zu expandieren. Er hatte sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, der größte private Internet-Provider in Europa zu werden. Innerhalb weniger Monate kaufte er – auf Pump – über 20 Unternehmen auf und war danach in 15 europäischen Ländern präsent. Nichts und niemand schien diesen Napoleon der Kommunikationsbranche aufhalten zu können.
Aber: Zu viel Erfolg zieht fast immer Hybris nach sich. Wer von Sieg zu Sieg eilt, verfällt irgendwann der Selbstüberschätzung. Die Geschichte kennt viele Beispiele dafür. Der Fortgang dieser Heldengeschichte folgt denn auch einer inneren Logik. Es kam, wie es kommen musste:
Soru hatte sich übernommen. Um dem kompletten Kollaps zu entgehen, musste er die meisten seiner Erwerbungen wieder herausrücken. Aus der Traum vom Global-Player! Aus der Traum auch von der Politiker-Karriere. 2016 wurde er wegen Steuerhinterziehung zu 3 Jahren Haft verurteilt.
Wie gewonnen, so zerronnen!
„Mein“ Tiscali hingegen kümmert das nicht. Das Dorf wird ihn überdauern, wie es schon viele überdauert hat, und ich werde unseren Gästen dieses Kleinod gern und immer wieder als lohnendes Ausflugsziel empfehlen.
Mit einem sardischen “Adiosu” verabschiedet sich für heute
Joachim Waßmann
Hinzu kommt noch, dass wegen den unterschiedlichen Dialekten keine einheitliche sardische Schriftsprache existiert. Das fuhrte dazu, dass heute bei den Sarden hauptsachlich Italienisch als Umgangssprache vorherrscht.
Wenn heute das Sardische immer mehr verschwindet, dann liegt das in allererster Linie an den Medien. Funk, Fernsehen und Printmedien bedienen sich des Italienischen. Das führt zwangsläufig zur Verdrängung der Dialekte und zur Etablierung „einer“ Sprache. Noch vor weniger als 100 Jahren war Italienisch eine Fremdsprache, die nur die Eliten beherrschten. Die Sarden haben sich stets „erfolgreich“ mit ihren Dialekten untereinander arrangiert und täten das noch heute, wären nicht die Massenmedien auf den Plan getreten. Hinzufügen sollte ich vielleicht noch, dass das Sardisch der Bauern und Hirten in der Barbagia eine eigenständige Sprache, nicht aber ein Dialekt ist. Das ist der jahrtausendelangen Abschottung von Fremdeinflüssen zu verdanken. Das Sardische zählt zusammen mit dem in abgelegenen Alpentälern (Schweiz, Friaul) anzutreffenden rätoromanischen Sprachgruppen zu den Sprachen, die das Lateinische am besten konserviert haben. Einem Deutschen, Max Leopold Wagner, ist es zu verdanken, dass das Sardische Objekt wissenschaftlicher Erforschung wurde und den Status „Sprache“ bekam.